„Hunger ist die sinnloseste Todesursache, die es gibt“

Von Christina Schröder · · 2025/Mai-Jun
Vietnamesische Zeitung aus 2015, auf der sich mehrere Krebse tummeln.
Vietnamesische Zeitung aus 2015. Seit 2016 hat sich der Welthungerindex-Wert des Landes verbessert. © Chow and Lin, The Poverty Line

Andrea Barschdorf-Hager, Geschäftsführerin von Care Österreich, darüber, warum Menschen Hunger leiden, wie globale Probleme immer ähnlicher werden und welche Lösungsansätze weltweit funktionieren.

Stellen sich die Rahmenbedingungen von jenen, die von Hunger betroffen sind anders dar als vor 20 Jahren?

Ja, auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel, gibt es in vielen Ländern, v. a. im subsaharischen Afrika, jetzt eine höhere Bevölkerungsdichte als früher. In Folge sind mehr Menschen hungergefährdet, wenn es in einer Region kurzfristig wegen Wetterextremen zu Ernteausfällen oder langfristig wegen Bodenauswaschung zu geringeren Erträgen und damit zu Nahrungsmittelknappheit kommt. Es hat sich aber auch die Infrastruktur der Nothilfe in diesen Fällen verändert. Man versucht nun vermehrt Nahrungsmittel aus nahen Regionen heranzuschaffen, bzw. schon zu lagern für den Notfall. Das war zum Beispiel in Gaza der Fall.

Und hat sich mit den Rahmenbedingungen auch das Bewusstsein zur Ernährung bzw. Hungerprävention geändert? Kann das in gefährdeten Regionen helfen?

Ja! Menschen lernen, dass die traditionelle Art und Weise sich zu ernähren nicht unbedingt oder nicht mehr die optimalste ist, wie es übrigens hier auch passiert oder passieren sollte. Ein Beispiel ist Mali, wo die Menschen seit jeher Zwiebel und Getreide im Garten anbauen. Wenn sie sich nur davon ernähren, kommt es zu Mangelerscheinungen. Insgesamt gilt für Menschen auf der ganzen Welt, dass sie offen sein sollten, Althergebrachtes zu überdenken, v. a., wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Auch die Landwirtschaft muss auf die Veränderungen durch den Klimawandel reagieren.

Wie reagieren denn Regierungen auf erlebte Hungersnöte?

In Äthiopien wurden immer wieder Programme gestartet, um die landwirtschaftlichen Erträge zu verbessern. Und zwar unter der Annahme, dass kleinbäuerliche Landwirtschaft für jene, die unter einen halben Hektar zur Verfügung haben, nicht mehr als Subsistenzwirtschaft zulässt und im Notfall keine finanziellen Ressourcen da sind, um Nahrung zuzukaufen. Ergo gilt es, die Ernteerträge mit technischen Mitteln zu erhöhen. Im Idealfall gelangen diese auf den lokalen Markt und werden nicht exportiert. Wichtig ist dabei, dass das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung im Vordergrund steht und nicht das der ausländischen Wirtschaftstreibenden.

Sie waren im Laufe der Jahre oft direkt bei den Menschen, die akut von Hunger betroffen sind. Was hat Sie besonders berührt?

Wenn Mütter nach der Geburt eines Kindes wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes nicht stillen können. Wenn sie mehr als zwei Tage brauchen, um eine Klinik zu kommen, ist es oft zu spät. Babys sterben. Aus diesem Grund setzen wir uns in vielen Programmen dafür ein, dass Mütter wissen, dass es Aufbaunahrung gibt und Zugang dazu erhalten. Kinder, die in den ersten zwei Lebensjahren mangelernährt sind, haben ihr Leben lang mit den gesundheitlichen Folgen zu kämpfen. Und: Auch bei uns muss fallweise besser auf die Ernährung von Kindern geschaut werden. Es gibt immer noch zu viele, die beispielsweise ohne Frühstück das Haus verlassen. Das sollte nicht sein.

Ich bin in einer Zeit groß geworden – vor 40 Jahren –, in der oft gesagt wurde, „iss auf, anderswo hungert ein Kind“. Die Bilder dazu waren Kinder mit Hungerbäuchen auf Plakaten oder in Schulbüchern. Wie wird Menschen in Europa heute der Hunger in der Welt präsentiert?

Spendensammelnde Organisationen wie Care oder andere vermeiden diese Bilder mittlerweile, um eine menschenunwürdige Stigmatisierung als Opfer zu vermeiden. Dazu haben Internet und soziale Medien sicher auch zu einer gewissen Abstumpfung gegenüber heftigen Bildern geführt, einer picture fatigue. Die Digitalisierung hat aber auch Postives gebracht: Weltweit wird immer mehr für die Lebensmittelrettung getan. Und das funktioniert gut mithilfe von Apps, nicht nur bei uns, sondern zum Beispiel auch in Nigeria. Im Notfall kann schnell regionale Hilfe geleistet werden. So geschehen während der Pandemie, als es in einem der weltweit größten Geflüchtetenlager Dadaab, dass 1991 in der kenianischen Wüste erbaut wurde, zu einem Nahrungsmittelengpass kam. Nach einem Aufruf in den sozialen Medien wurden schnell Lastwägen voller Gemüse aus Nairobi angeliefert, wo übrigens mittlerweile viel durch Urban Gardening produziert wird.

US-Präsident Donald Trump geht aktuell gegen USAID vor – rund 54 Milliarden US-Dollar liegen auf Eis. Können andere internationale Geldgeber so einen Ausfall kompensieren, und was droht, wenn nicht?

Die humanitäre Hilfe leidet an chronischer Unterfinanzierung, auch weil es noch nie so viele Menschen wie heute gab, die darauf angewiesen sind, rund 305 Millionen. Aber es geht nicht nur um Trump, sondern nicht zuletzt um den Weltfrieden. Es ist im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft eine Balance zu finden. Deswegen denke ich, dass temporäre Ausfälle einzelner in irgendeiner Form kompensiert werden. Und: Bis zur Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine sind die Zahlen der Hungernden auch schon gesunken. Die Ursachen für ein neuerliches Ansteigen liegen jetzt in vielen Ländern auch an der hohen Inflation, die Essen für viele zu teuer macht.

Wie wäre die Welt, wenn alle genug hätten, um sich zu ernähren? Woran würden wir das bemerken?

Die Menschen würden nicht mehr an der sinnlosesten Todesursache sterben, die es gibt. Mit jedem und jeder Einzelnen stirbt Potential für alle. Es gibt genug Gegenrezepte, aber allen voran geht es um den Willen, sich umeinander zu kümmern! Dazu braucht es starke Institutionen, die bewusstseinsbildende, bildungs-, gesundheits- und familienpolitische, sowie infrastrukturelle Maßnahmen ergreifen können.

Interview: Christina Schröder

© Patricia Weisskirchner

Andrea Barschdorf-Hager leitet seit 2009 Care Österreich und ist seit 2023 Vorstandsmitglied des Österreichischen Instituts für Internationale Politik.

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